Ein Roman von Jörg Liemann
Was ist los in diesem Entwicklungsroman? Weshalb sind die Sätze nummeriert? Das Buch führt zunächst ins Jahr 1982. Jurastudent Gerhard Poimann zweifelt an seinem Berufsziel. Er erwägt einen Wechsel an die Kirchliche Hochschule, zur Theologie – aber sollte man dafür nicht an Gott glauben? Außerdem hat er ganz andere Interessen: Er will einen Agentenfilm drehen und interpretiert leidenschaftlich die aktuelle Politik der Achtziger Jahre. Folgen wir mit den Jahren einem Glücksritter oder einem Hochstapler, dem – unterstützt von ehrgeizigen Freunden – scheinbar alles gelingt? Kann und darf man in höchste Ämter aufsteigen, wenn einem dazu eigentlich die Voraussetzungen fehlen, man aber von allen Seiten gelobt und hofiert wird? Auf die Schilderungen der Zeitgeschichte sollten die Leserinnen und Leser einen besonderen Augenmerk richten, denn da gibt es merkwürdige, aber amüsante Verwerfungen.
- Taschenbuch: 304 Seiten
- Verlag: Neopubli, Juli 2016
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3741830097
- ISBN-13: 978-3741830099
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Interview mit dem Autor über das Buch:
Verena Busche: Beim Blättern fällt auf, dass vor jedem Satz eine kleine Zahl steht. Nach einer Weile ist man nicht mehr irritiert, aber ungewöhnlich ist es schon, oder?
Jörg Liemann: Woher kennen wir nummerierte Texte? Zum einen aus Gesetzen, in Form von Paragrafen und Ziffern. Zum anderen aus der Bibel. Mein Protagonist kommt von der Juristerei und geht zur Theologie, also ist ihm das Phänomen aus diesen beiden Welten vertraut. Weshalb Gerhard Poimann die Zahlen bei seinen Aufzeichnungen verwendet, kann und will ich nicht bis ins Letzte klären. Etwas Geheimnisvolles soll bleiben.
Die Zahlen verleihen den Sätzen Gewicht?
Beim Schreiben war es eigenartig: Im Alltag und in der Literatur kommt es nicht vor, dass wir unsere Sätze mit einer Zahl einleiten. Das ist fast so, als würde man die Zehn Gebote oder so etwas formulieren.
Es gibt Regelbrüche: Manchmal fallen zwei Sätze unter eine gemeinsame Nummer.
Genau. Das ist wie bei einer Bibelübersetzung, die aus manch einem Originalsatz zwei Sätze macht. Zuweilen gibt es auch mehrere Zahlen in einem Satz. Damit will ich dann Satzteile besonders betonen.
Der Roman spielt größtenteils in den Achtziger Jahren. Wie hast Du recherchiert?
Ich greife auf meine eigenen Erinnerungen aus den 1980er Jahren zurück. Die sind recht lebendig. Bekanntlich soll man über Dinge schreiben, die man kennt. Meine Tagebücher waren eine wichtige Stütze und Quelle. Ich bin aber auch noch mal Jahrbücher durchgegangen, die es über Berlin gibt. Da ging es weniger um die gezielte Suche nach Details. Ich wollte noch mal in den Zeitgeist von damals eintauchen.
Auf das Internet kann man sich dabei wohl nicht verlassen?
Bei manchen Recherchen reicht das Internet nicht. Nehmen wir die Universität, um die es im Roman geht.
Die Kirchliche Hochschule in Berlin-Zehlendorf?
Ja, da habe ich fünf Semester studiert. Das Internet weiß aber kaum etwas über sie. Kurz nach dem Mauerfall wurde sie aufgelöst und in die Humboldt-Uni integriert. Damals gab es Google & Co noch nicht, und danach hat kaum jemand von den Alumnis im Internet über diese Hochschule geschrieben. Es ist fast gespenstisch; ich war noch mal auf dem Campus, heute befindet sich dort eine Evangelische Ausbildungsstätte, aber von der Universität, die ja immerhin ein eigenständiges Promotions- und Habilitationsrechte hatte, weiß kaum noch jemand.
Mit Deinem Roman bleibt sie in Erinnerung.
Ich wollte, dass sie nicht vergessen wird, zumal die Kirchliche Hochschule aus der Bekennenden Kirche, also aus dem Widerstand gegen die Nazis, hervorgegangen ist.
Einerseits geht es Dir in Poimanns Testament um die realen Achtziger Jahre, andererseits verlaufen bei Dir einige historische Ereignisse anders, als wir sie kennen.
Die alternative Geschichtsschreibung hat ihren Ursprung meines Wissens im angelsächsischen Raum. Bei uns wird sie inzwischen auch populärer. Ich sah bei diesem Roman die Gefahr, bei aller Genauigkeit im Detail einfach nur wie ein sorgfältiger Protokollant der 1980er Jahre zu wirken. Also muss man ab und zu Brüche einbauen, die Leserschaft verblüffen, wenn sie beginnt, es sich zu sehr in den Achtzigern und eventuell in eigenen Erinnerungen gemütlich zu machen. Ich lasse die Geschichte also einfach mal ein bisschen anders laufen. Man mag es Poimanns Fabulierlust zuschreiben oder es für eine eigenständige Roman-Geschichte halten. Die historischen Ereignisse unterliegen teilweise Zufällen, die hätten also auch leicht anders verlaufen können. Allerdings ist ein Clou, der mich dabei selbst überrascht hat, dass ich schließlich doch nicht allzu weit von den tatsächlichen Ereignissen abweiche. So, als müssten bestimmte Dinge früher oder später einfach eintreten, geradezu zwangsläufig.
Was brachte Dich auf die Idee zu Poimanns Testament?
Das Thema Theologie und Pfarrer-Dasein hat sich erst beim Konzipieren ergeben. Ursprünglich wollte ich über etwas ganz anderes schreiben, was aber auch auf die 1980er Jahre Bezug nahm.
Und zwar?
Das will ich hier nicht ausführen, denn die Sache ist noch heiß und wird vielleicht zu einem weiteren Roman führen. Jedenfalls kam ich darauf, dass der Protagonist Theologie studieren könnte – und daraus entwickelte sich der neue Plot. Die ursprüngliche Idee kappte ich, sonst wäre das Buch überfrachtet worden.
Ging es Dir auch darum, Dein eigenes Theologiestudium zu verarbeiten?
Nicht in einem therapeutischen Sinn. Das Studium und die Tatsache, dass ich zwei Jahre Sprecher der Berliner Theologiestudierenden war, habe ich aber immer als mögliches Material empfunden. Jetzt liegt das Studium mehr als drei Jahrzehnte zurück, der notwendige Abstand ist da. Über Poimanns Studienwechsel von Jura zu Theologie kann ich etwas sagen, weil ich selbst das Theologiestudium abgebrochen und – nicht zu den Juristen gegangen bin, aber im Rahmen des Verwaltungsstudiums mehrere juristische Fächer hörte. Nur die Reihenfolge ist bei Poimann anders als bei mir.
Wie viel Biografie steckt letztlich in dem Roman?
So wie ich in Poimanns Testament mit historischen Ereignissen spiele, so spiele ich auch mit meinen autobiografischen Fakten. Das heißt, manche Details stimmen zwar genau – Poimanns Matrikelnummer zum Beispiel besagt, dass er sich am selben Tag immatrikuliert haben muss wie ich –, aber ich setze sie so ein, dass man nicht wirklich etwas über mich erfährt. Wozu auch?
Aber das Biografische kann zu mehr Tiefe und Genauigkeit führen?
Richtig. Diese Angaben dienen der Authentizität. Deshalb bietet sich der Rückgriff auf den Pool des eigenen Erlebens an, aber ein Roman sollte keine Autobiografie sein. Schon deshalb nicht, weil die beliebte Aussage, das Leben schreibe die besten Geschichten, völlig fehl geht. Diese Geschichten sind meist, 1:1 erzählt, tödlich langweilig – für die Autor*innen nicht, aber für die Leser*innen. Das Leben regt die besten Geschichten allenfalls an.
Du hast mir erzählt, dass Karl Ove Knausgård ein Ansporn für Dich war, diesen Roman zu schreiben. Knausgård ist aber doch ein Ultraautobiograf.
Von Knausgårds sechsbändigem Werk „Min kamp“ habe ich nur den Teil „Träumen“ gelesen habe, wo er die Literaturakademie in Bergen besucht. Ich war verblüfft davon, wie man eben doch versuchen kann, aus dem eigenen Leben ohne große Abstriche ein Romangeschehen zu machen. Wahrscheinlich werden davon noch Nachbeben ausgehen, die dem Autor und seinem Umfeld zu schaffen machen, und literarisch ist das Unterfangen fragwürdig. Gleichzeitig hat es mich aber zu Poimanns Testament animiert. Ich dachte: Du fragst dich, ob du autobiografische Fragmente – Fragmente! – verwenden und umbasteln darfst, und der macht es ganz plump, verändert (scheinbar) gar nichts, gestaltet nichts um. Ist das noch literarisch?
Autobiografien sind ein Steckenpferd von Dir?
Biografien und Autobiografien machen in meinen Bücherregalen 30 % aus. Als Autor fiktiver Texte muss man vorsichtig mit solchen Elementen umgehen, weil viele Leser, die keine anderen Analysewerkzeuge zu haben glauben, gern alles, was man schreibt, als versteckte autobiografische Erzählung deuten.
Für wen, würdest Du sagen, ist die Lektüre von Poimanns Testament besonders interessant?
Das ist kein Action-Reißer. Wer so etwas erwartet, liegt hier falsch. Es geht um die Lust, sich zu erinnern. Das Erinnern ist mit unserer Existenz verknüpft. Es geht also um Grundlagen unseres Selbstverständnisses. Das Buch fragt, wie kreativ wir dabei zuweilen vorgehen. Ich finde, das ist ein Thema, das uns alle früher oder später beschäftigt. Poimann führt das auf die Spitze – denn die Geschichte soll ja in erster Linie gut unterhalten.
Am Ende des Romans spricht Du von einem Bundeskanzler Lindner. Werden da prophetische Begabungen deutlich?
Das überlasse ich gern der Phantasie des Publikums.
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Das Interview führte Verena Busche. Sie ist Regisseurin, Schauspielerin und Coach sowie Co-Autorin von Gesinnungshemmer: Werkausabe.